Jasminblütenzauber
Der Kuss war anders – als lernten sie sich neu kennen, und gleichzeitig fühlte sich jede Berührung noch inniger an. Ihre Herzen öffneten sich wie Blütenkelche in der Morgensonne.
Was bisher geschah …
Für einen kurzen Sommer glaubt Lila, ihre große Liebe gefunden zu haben. Als Ben jedoch nach einem furchtbaren Streit nach Kanada zurückkehrt, verlässt auch sie Château Vauclain und zieht nach Sainte-Émilie, um zu sich selbst zu finden. Das Leben hat ihr in den vergangenen Monaten viel abverlangt und ihre Zukunft ist ungewisser denn je.
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Yael
12 août. Zwölfter August. Es gibt drei Dinge, die du nach einem nervigen Flug nicht erleben willst: einen aufgeplatzten Koffer, aus dem deine Unterwäsche hervorblitzt, einen aufdringlichen Drogenspürhund und einen rassistischen Zollbeamten. Aber der Reihe nach …
L’Aéroport Marseille, Provence. Zuerst fiel ihr das Gekicher der Leute gegenüber auf, von denen einige ihr Handy gezückt hatten, um Fotos zu machen. Die Frage, was da so Lustiges auf dem Gepäckband liegen mochte, beantwortete sich rasch. Der von Cousine Eli geliehene Koffer hatte die Reise nicht überlebt. Eilig zerrte sie das schwere Ding auf den Trolley. Der Reißverschluss war geplatzt, und irgendjemand hatte ihn mit einer pinkfarbenen Plastikfolie umwickelt, um das Schlimmste zu verhindern.
So gut es ging, stopfte sie die heraushängenden Sachen wieder zurück, betrachtete einen Augenblick lang ärgerlich ihr Lieblingshemd, das nun Reifenspuren zierten, und reihte sich in den Strom der Reisenden ein, die dem Ausgang zustrebten.
»Entschuldigung, gehört das Ihnen?«
Ungehalten wandte sie sich um und zwang sich ein Lächeln ab, als sie sah, was der Mann meinte. Er konnte nicht ahnen, dass er den wichtigsten Grund für die überstürzte Abreise aus Tel Aviv in der Hand hielt. Eine sehr männliche Hand, die zu jemandem gehörte, der körperliche Arbeit nicht scheute. Zupackend, mit kurz geschnittenen Nägeln, gepflegt. Sie sah ihm ins Gesicht. Intelligent, dachte sie. Ein attraktiver Mann.
»Vielen Dank, Monsieur. Ja, das ist meins.«
»Sie sollten den Schaden dokumentieren und der Fluggesellschaft melden.« Er zeigte auf ihr ramponiertes Gepäck und sah ihr unverwandt in die Augen, als hätte er etwas anderes sagen wollen.
»Das habe ich vor.« Yael fragte sich, ob sie ihn zum Dank auf einen Kaffee einladen sollte, als eine strenge Stimme sie zusammenfahren ließ.
»Zoll. Kommen Sie bitte mit!«
Obwohl der Uniformierte um einen neutralen Ton bemüht war, wirkte er feindselig auf sie. Hinter ihm stand ein Kollege bereit und ein dritter Beamter mit einem Hund, der aufgeregte Laute von sich gab und an der kurzen Leine zerrte.
Yael bemühte sich, nicht so entnervt zu klingen, wie sie sich fühlte. »Meinen Sie ihn oder mich?«
»Wollen Sie sagen, Sie gehören nicht zusammen?«
Der Mann neben ihr runzelte die Stirn. Offensichtlich war er eine solche Behandlung nicht gewöhnt, und sein unverwechselbarer Akzent, der ihn als Absolvent einer Elite-Universität auswies, wurde deutlicher. »Allerdings, ich habe Madame …«
»Das können Sie später erklären – Monsieur«, unterbrach ihn der Mann grob, und Yael beobachtete eine subtile, aber bemerkenswerte Veränderung in der Haltung ihres unfreiwilligen Begleiters. Er wirkte plötzlich unnahbar und konzentriert. Sie war fast sicher, dass er einen militärischen Hintergrund hatte.
»Na dann«, sagte sie und folgte den Beamten. Die machten auch nur ihren Job. Ihr Begleiter sah ärgerlich auf die Uhr, setzte sich aber ebenfalls in Bewegung.
Während er am Nebentisch erst den Pass und anschließend seinen ordentlich gepackten Koffer präsentierte, gab es bei ihr Diskussionen.
»Das hier ist der Einreise-Bereich für EU-Bürger. Sie sind Ausländerin!«
In der Aufregung hatte sie dem Zöllner ihren israelischen Reisepass gegeben. »Doch, warten sie …«
»Beide Hände auf den Tisch!«
Widerstrebend gehorchte sie. »Ich bin Französin. Der Ausweis steckt in meiner Tasche.«
»Langsam rausholen!«
Yael war beim Militär gewesen und hatte in der Zeit unzählige Menschen kontrolliert. Deshalb war sie mit der Anspannung vertraut, die damit einherging. Es konnte immer etwas passieren. Dieser Beamte allerdings wirkte weniger besorgt als vielmehr feindselig, und als sie nun den zweiten Pass hervorzog, verwünschte sie sich innerlich dafür, ihr Bargeld hineingelegt zu haben.
Prompt hörte sie ihn etwas knurren, das klang wie: »Ihr Juden versucht doch immer, alles mit Geld zu regeln.«
»Das ist mein Reisegeld. Hundert Euro«, sagte sie deshalb laut genug, damit es jeder hören konnte, und bemerkte mit Genugtuung, dass sich seine Ohren röteten. Offenbar hätte es ihm nichts ausgemacht, Geld von einer Jüdin einzustecken.
Die Durchsuchung ihres Gepäcks ergab nichts, abgesehen von dem bedauerlichen Umstand, dass nun die Folie durchtrennt war, die es zusammengehalten hatte.
»Was werfen Sie uns eigentlich vor?«, hörte sie den Mann neben sich fragen.
»Der Drogensuchhund hat angezeigt«, antwortete die Beamtin, die seine Sachen durchgesehen hatte. »Wir müssen dem nachgehen, Monsieur«, fügte sie beinahe entschuldigend hinzu, während Yaels Gegenüber auf das Päckchen zeigte, dass sie vorhin fast verloren hätte.
»Erde«, sagte sie trotzig, »und zwei Steine, wenn sie es genau wissen wollen.«
Die Augen des Zöllners wurden schmal. »Willst du mich verarschen, du …«
»Ja?«, fragte sie nicht minder aggressiv, als er nicht weitersprach. »Was wollten Sie sagen?«
»Gehen Sie zum Scanner und legen Sie das Zeug in die Schale!«
Sie tat, was er verlangte, und sah danach zu, wie ihr Mitbringsel für Tante Sadie in dem Röntgengerät verschwand, auf dessen anderer Seite wenig später eine Diskussion begann. Eine Zöllnerin und zwei Kollegen sprachen aufgeregt miteinander. Allmählich wurde ihr mulmig. Hatte ihre Cousine womöglich noch andere Dinge eingepackt?
Schließlich stand die Frau auf und kam zu ihr: »Wir müssen das genauer untersuchen, kommen Sie bitte mit.«
»Und meine Sachen?«
»Auf die kann Ihr Freund aufpassen.«
»Er ist nicht …«
»Bitte!«
Yael begriff, dass dies ein Befehl war. Obwohl sie das Bedürfnis hatte, laut zu schreien, nickte sie. »Ich mache keine Schwierigkeiten, okay? Den Mann kenne ich wirklich nicht. Lassen Sie ihn gehen.«
»Das müssen Sie schon uns überlassen.«
Mit einer entschuldigenden Geste in seine Richtung trottete sie hinter der Zöllnerin her, um sich zuerst in einen Bodyscanner zu stellen und anschließend darauf zu warten, was die nähere Untersuchung ihres Päckchens ergeben würde.
Eine halbe Stunde später drückte ihr jemand einen Klarsichtbeutel mit Sand und zwei Steinen in die Hand. »Sie können gehen.«
»Und was ist mit dem Drogenhund?«
»Der hat sich geirrt. Au révoir Madame und einen guten Aufenthalt in der République Française.«
Als sie in den Untersuchungsraum zurückkehrte, saß der Mann auf einem Stuhl neben ihrem zerfledderten Koffer und dem Rucksack, in dem sich all ihre wirklich wertvollen Habseligkeiten befanden. Es sah aus, als schliefe er, aber als Yael näher kam, öffnete er die Augen und sagte: »Da bist du ja. Können wir jetzt gehen?«
Draußen standen sie einen Augenblick lang unschlüssig herum, bis Yael sich ihrer Manieren besann. »Danke«, sagte sie. »Es tut mir leid.«
»Nein, mir tut es leid. Sie sind nicht korrekt behandelt worden.«
»Das ist nicht neu«, sagte sie. »Ich bin Yael. Das Du ist mir lieber.« Sie steckte das Kettchen mit dem Davidstern zurück unters T-Shirt.
Er lächelte und stellte sich als David vor. »Darf ich fragen, weshalb du Feldsteine nach Frankreich mitbringst? Wir haben davon wirklich mehr als genug hier in der Provence. Oder bist du Geologin?«
Sie lachte, und allmählich fiel die Anspannung von ihr ab. »Die sind für meine Tante, sie ist kürzlich Witwe geworden und selbst sehr krank. Sie hat es sich gewünscht«, fügte sie leise hinzu.
»Verstehe. Mein herzliches Beileid.« Er sah kurz zu dem Café in der Nähe des Ausgangs. Sein Blick wurde weich, und Yael hätte schwören können, dass er sie zu einem Drink einladen wollte, als sein Handy klingelte.
»Oui? Ah, Martine. Nein, ich bin am Flughafen aufgehalten worden. In spätestens einer Stunde bin ich da.«
Mit einem bedauernden Lächeln steckte er das Handy ein. »Ich muss los. Es war nett, Sie – dich kennengelernt zu haben.«
Sie sah ihm hinterher, bis er in der Menschenmenge verschwunden war, und eilte danach zum Schalter der Autovermietung.
Auf der Fahrt nach Sainte-Émilie-de-Vauclain ging er ihr nicht aus dem Kopf. David. Er war größer als sie und hatte ausgesprochen fit gewirkt. Die dunklen, extrem kurz geschnittenen Haare gaben ihm etwas Kühnes, obwohl die Art, wie er sich verhalten hatte, von einem kultivierten Hintergrund erzählten. Gebildet und nicht unvermögend, die Markenuhr an seinem Arm konnten sich nur wenige leisten. Das Bemerkenswerteste aber waren die tiefblauen Augen, in denen sie hätte versinken können.
Warum hatte sie ihn nicht nach seiner Telefonnummer gefragt? Ganz einfach: Weil sie nicht bereit war für einen Flirt, und für etwas Ernsthafteres schon gar nicht. Und außerdem hatte er sich auch nicht danach erkundigt. Wahrscheinlich, dachte sie, wartet diese Martine mit dem Essen auf ihn, und es war gut so, wie es war. Yael schob die Gedanken an den fein geschwungenen Mund beiseite, der streng wirkte – bis er lächelte.
Statt weiter darüber nachzudenken, was passiert wäre, hätten sie gemeinsam einen Kaffee getrunken, wählte sie Elis Telefonnummer und wartet nicht ab, bis ihre Cousine sich vollständig gemeldet hatte.
»Was zur Hölle war in dem Koffer?«
»Warum?« Eli kicherte.
»Ich hing ewig im Zoll fest, weil sie mich für eine Drogenkurierin gehalten haben! Du bist mir was schuldig.«
David
Es war reiner Zufall, dass er sie beim Verlassen des Parkdecks noch mal sah. Die untergehende Sonne tupfte rot glühende Lichter in ihr wildes Haar, bevor sie im Schatten des Parkhauses verschwand. Hinter ihm hupte jemand, und David hob entschuldigend die Hand, während er losfuhr.
Zu Hause stellte er den Motor ab und blieb sitzen, obwohl Martine sicher schon genervt auf ihn wartete.
Ärger rollte in Wellen durch seinen Körper. Ärger über sich selbst, weil er nicht den Mut gehabt hatte, Yael um ein Treffen zu bitten, und weil er nicht verhindert hatte, dass dieser unerträgliche Kerl sie schikanierte. Warum auch immer. Es gab viele Gründe. Weil sie eine Frau war, Jüdin oder einfach nur, weil er die Macht dazu hatte. David wusste es nicht, aber hätte man ihn aufgefordert, eine Wette abzuschließen, hätte er sich zwischen Rassismus und Frauenfeindlichkeit nicht entscheiden können.
Schließlich legte er die Finger ineinander wie zum Gebet und konzentrierte sich auf das, was nun kommen würde. Seine Tochter, ihre bedingungslose Liebe und erfrischende Neugier. Die stillen Vorwürfe der Tagesmutter. Später das einsame Abendessen. David seufzte und stieg aus.
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Yael
Sie steuerte den Wagen durch die schmalen Straßen von Sainte-Émilie hinauf bis zum Place de l’Abbaye. Dort stieg sie aus und sah sich um. Der prachtvolle Olivenbaum stand immer noch da, aber nun war er eingefasst von einer Bank, deren helles Holz verriet, dass es sie noch nicht lange geben konnte. Die beiden Schaukeln neben dem Baum waren neu. Yael bekam sofort Lust, sich draufzusetzen und Schwung zu holen. Den kleinen Boule-Platz daneben kannte sie noch, und der Jasmin an der brüchigen Klostermauer war riesengroß geworden. Er verströmte einen feinen Duft, den sie unauflöslich mit der Provence verband, obwohl die Pflanze in vielen Ländern wuchs.
Yael überlegte, wann sie das letzte Mal hier gewesen sein mochte. Das musste kurz vor dem Abitur gewesen sein, das sie als Stipendiatin in einem Internat ganz in der Nähe abgelegt hatte. An die langen, heißen Sommer einige Jahre zuvor in Sainte-Émilie erinnerte sie sich dagegen noch genau. Sie war zwölf gewesen, und Maman ging es nicht gut. Heute wusste sie, dass ihre Mutter Krebs gehabt hatte.
Das Heimweh von damals war sofort wieder präsent. Dabei hatte sich Tante Sadie mit ihrem Mann Alain Fontaine liebevoll um sie gekümmert und versucht, ihren Kummer mit allerlei Beschäftigungen zu mildern. Sie durfte der Künstlerin beim Töpfern helfen und erinnerte sich noch genau an das Glück, das sie empfunden hatte, als ihr der erste gleichmäßig geformte Krug gelungen war, den sie später gemeinsam in den Farben der Provence bemalt und glasiert hatten. Auf einmal glaubte sie, auch den Duft von Brot und süßen Küchlein wieder in der Nase zu haben, der diese unbeschwerten Sommer begleitet hatte.
Sie seufzte. Die alte Bäckerei neben Sadies Geschäft war einer Galerie gewichen. Im Schein der Nachtbeleuchtung glänzten Objekte aus Stahl, wo früher der Tresen mit dem großen Bonbon-Glas gestanden hatte, aus dem ihr Madame Meir manchmal eins schenkte, wenn sie frühmorgens Baguette holte.
Das Eckhaus der Fontaines wirkte neben den herausgeputzten Nachbarn schäbig. Damit hatte Yael nicht gerechnet, denn sie hatte die Schwester ihrer Mutter und deren Mann als wohlhabend in Erinnerung. Der Laden sah verwaist aus, die Fenster der darüber liegenden Wohnung waren dunkel.
Sie wusste nicht, was sie erwartete. Ihre Mutter hatte einen Anruf aus dem Kloster erhalten, dass ihre vor einigen Monaten verwitwete und deutlich ältere Schwester Hilfe benötigte, die die Benediktinerinnen offenbar nicht leisten konnten.
Yael wurde auserkoren, nach dem Rechten zu sehen, denn ihre Familie nahm keinen Job ernst, für den man weder Laden noch Büroräume brauchte.
Sie klingelte an der seitlich gelegenen Haustür, aber niemand öffnete. Was, wenn Sadie etwas zugestoßen war? Die nette Madame Meir aus der Boulangerie hätte davon gewusst, aber sie lebte offensichtlich nicht mehr hier, und sonst kannte Yael keine Menschenseele. Erneut drückte sie auf den Klingelknopf, das Schellen im Haus war unüberhörbar. Als nichts weiter geschah, machte sie kehrt und ging die Klostermauer entlang bis zu dem bescheidenen Gebäude am Rande der Anlage, in dem schon damals nur noch wenige Nonnen gelebt hatten. Unterwegs kamen ihr zwei Paare entgegen, die Englisch miteinander sprachen und in einem der renovierten Häuser verschwanden. Touristen, die ihr nicht weiterhelfen konnten.
Am Kloster war ebenfalls alles dunkel, wenn man von der Straßenbeleuchtung absah, deren fahler Schein taumelnde Insekten anlockte. Yael hielt bereits die Kette in der Hand, mit der man eine Glocke im Inneren betätigte. Doch dann fiel ihr ein, dass das Klosterleben einem anderen Rhythmus gehorchte, als man ihn draußen in der weltlichen Umgebung kannte.
Was nun? Sollte sie zurück zum Rathausplatz, wo sie einen Gasthof passiert hatte?
Sie sah auf die Uhr. Es war anzunehmen, dass die Nonnen früh aufstehen würden. Für die wenigen Stunden lohnte es sich nicht, ein Zimmer zu mieten. Außerdem war es noch warm, und sie hatte schon schlechter gelegen als in einem Mittelklassewagen. Kurzerhand entrollte sie ihren Schlafsack, ließ die Autositze nach hinten sinken, setzte Kopfhörer auf und schloss die Augen.
Ein Geräusch weckte sie. Steif vom Liegen fühlte sie sich einen kurzen Augenblick orientierungslos, als lautes Klopfen aufs Autodach sie erneut zusammenfahren ließ. Yael riss die Tür auf und blinzelte ins fahle Morgenlicht. »Was zum Teufel …?« Der Anblick des uniformierten Polizisten ließ sie verstummen.
»Was tun sie hier?«, fragte er streng.
»Bonjour, Monsieur l’agent. Ich habe geschlafen.«
»Das sehe ich, Madame! Fahrzeugpapiere und Ihren Ausweis.« Er schien sich zu besinnen und schob ein brummiges S’il vous plaît nach.
Nicht schon wieder, dachte sie, kramte aber folgsam ihre Tasche hervor und zeigte ihm den Pass, diesmal den französischen, und die Unterlagen der Verleihfirma.
»Was haben Sie sich dabei gedacht, hier zu übernachten?« Er klang ehrlich empört, als er ihr die Papiere zurückgab. »Sie hätten gar nicht in die Stadt hineinfahren dürfen!«
Yael rieb sich die Augen. Ohne einen starken Kaffee war sie am frühen Morgen zu nichts zu gebrauchen. »Tut mir leid. Ich besuche meine Tante. Sadie Fontaine.« Sie zeigte auf das Haus.
Sein Gesichtsausdruck wurde milder. »Madame Fontaine hätte Ihnen sagen müssen, dass Sie eine Parkplakette benötigen. Die gibt es im Rathaus. Aber auch damit dürfen sie nicht im Auto übernachten«, fügte er streng hinzu.
»Ich weiß, es tut mir leid. Sie hat gestern Abend nicht geöffnet, und im Kloster war auch niemand wach. Die Oberin hat uns angerufen, deshalb bin ich hier. Aber jetzt mache ich mir Gedanken, dass etwas passiert sein könnte …«
Der Polizist sah auf die Uhr. »Inzwischen sind die frommen Damen bestimmt wach. Wissen sie was, wir fragen da einfach mal nach.«
»Eine gute Idee!« Yael lächelte ihn begeistert an, so als wäre sie nicht längst selbst darauf gekommen, und gemeinsam gingen sie zur Klosterpforte, die nun einladend geöffnet und mit einem Kranz Kräutern geschmückt war. Bei näherem Hinsehen stellte er sich allerdings als künstlich heraus, was bei der zu erwartenden Hitze sicher keine schlechte Idee war. Ein Schild lud zur Besichtigung des Kräutergartens ein.
Es dauerte nicht lange, bis sie herausfanden, weshalb am Abend niemand geöffnet hatte. Sadie war gestürzt und lag mit mehreren Brüchen im Krankenhaus. Die gute Nachricht war jedoch, dass die Schwestern einen Zweitschlüssel zum Haus besaßen, den sie ihr nun überließen, und auch die Telefonnummer der Klinik, in die sie gebracht worden war.
Der Polizist legte ihr ein weiteres Mal ans Herz, sich schnell eine Parkplakette zu besorgen, und gab ihr eine Visitenkarte, auf deren Rückseite er etwas gekritzelt hatte.
»Wenn Sie die im Rathaus vorzeigen, geht es schneller«, sagte er und zeigte nach vorn. »Dort drüben ist der Parkplatz. Hier dürfen Sie nämlich auch mit der Plakette nur zum Ein- und Ausladen halten.« Er wünschte ihr einen angenehmen Aufenthalt. »Alles Gute für Madame Fournier.«
Inzwischen war es in der Straße lebhafter geworden. Leute schlenderten herum, machten Fotos und wirkten allgemein entspannt und in Urlaubslaune. Welch ein Unterschied zu Tel Aviv oder Paris, wo es immer laut und hektisch zuging.
Sie schloss die Ladentür auf, und ihr schlug abgestandene Luft entgegen. Schnell durchquerte sie den Verkaufsraum, um die Hintertür zu öffnen und durchzulüften. Dabei bemerkte sie, dass das Fenster daneben einen Spalt offen stand, und schloss es.
Seit ihrem letzten Besuch vor mehr als zehn Jahren hatte sich einiges verändert. Der kleine Innenhof wirkte verwahrlost, und zurück im Laden fiel ihr sofort auf, dass der nun zweigeteilt war. Auf der einen Seite stand Sadies Keramik in den Regalen, und man konnte von hier aus immer noch in die Werkstatt blicken, um der Künstlerin beim Arbeiten zuzusehen. In der anderen Hälfte jedoch befand sich nun ein langer Verkaufstresen mit einer silbern glänzenden Kaffeemaschine und zwei Glasvitrinen, Regalen mit Gläsern und großen Brotkörben, wie man sie aus alten Bäckereien kannte.
Angelehnt ein Dutzend Klappstühle mit passenden Tischen, die ihr bekannt vorkamen, weil sie so untypisch für Frankreich waren. Natürlich! Die Fontaines hatten Teile der Ladeneinrichtung von nebenan übernommen und offensichtlich auch die Funktion der Boulangerie Meir als eine Art Kiosk für die Einheimischen. Hier traf man sich auf einen Apéro und konnte beispielsweise Eier oder Kekse kaufen, wenn einem der Weg hinunter in die Einkaufsstraße mit dem kleinen Supermarkt zu weit oder zu beschwerlich war. Rund ums Kloster hatten früher viele alte Leute gewohnt, erinnerte sie sich.
Doch offensichtlich hatte Sadie den Laden schon vor ihrem Unfall nicht mehr geöffnet. Die Regale und der gläserne Kühlschrank waren leer, und über allem lag eine feine Staubschicht, in die sie ihren Namen hätte schreiben können.
Als Nächstes trug Yael ihr Gepäck hinein und fuhr den Wagen zum Parkplatz, um ihn dort im Schatten der Stadtmauer abzustellen.
Wieder zurück stieg sie die Treppe zur Wohnung hinauf, in der die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Die dunklen Möbel, die sie als Kind schon bedrohlich gefunden hatte, wirkten zu massiv für die Räume. Die geschlossenen Fensterläden ließen nicht viel Licht hinein. Die stickige Luft und ein Hauch von Krankheit, der in der Luft hing, schlugen ihr aufs Gemüt.
Yael schob die schweren Vorhänge beiseite und öffnete alle Fenster. Die Sonne würde erst am Nachmittag hereinscheinen, bis dahin konnten die Läden mit dem abblätternden sonnenbleichen Lack getrost offen bleiben.
Als Kind hatte sie eine Etage höher in einer Mansarde geschlafen. Daneben befand sich ein großes helles Apartment mit eigenem Bad, das an Künstlerinnen vermietet wurde, die wenig Geld, aber den Wunsch hatten, einen Sommer in der Provence zu verbringen. Es gab sogar einen Balkon, gerade groß genug, um einen Stuhl hinausstellen zu können. Wenn niemand da gewesen war, hatte sie sich manchmal hineingeschlichen und davon geträumt, eines Tages selbst so eine schöne Wohnung zu besitzen. Bis heute hatte sich dieser Traum nicht erfüllt, ihr Leben war viel zu unstet, als dass sie über ein eigenes Zuhause nachgedacht hätte. Und wenn sie hier fertig war, würde es so weitergehen.
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