Ophelia’s Dream
„Liebe niemals jemanden, der dich behandelt, als wärest du normal.“
Oscar Wilde
Ophelia Sinclair
Ophelia Sinclair, die alle nur Lia nennen, ist eine Zeitreisende mit vielen Talenten, doch sie weiß nichts über Tristans magische Welt, in der grimmige Zeitwächter ihresgleichen mit Argwohn betrachten. Gemeinsam machen sie sich auf die abenteuerliche Reise zwischen den Zeiten, bei der der Spaß und romantische Gefühle nicht fehlen dürfen.
Jetzt das E-Book bestellen (Amazon.de) Das Taschenbuch ist überall im Buchhandel erhältlich: ISBN 978-3-7579-6550-1
Im Atelier
Geschafft! Gemeinsam mit ihren beiden besten Freundinnen und Harry hatte Lia einen traumhaften Ball der Londoner High Society besucht, lauwarmen Punsch getrunken, geflirtet und – das war das Wichtigste – sie waren dabei unentdeckt geblieben und anschließend sicher wieder in ihr Haus in Cambridge zurückgekehrt.
Lia – Kapitel 2
Berauscht von den Aussichten auf eine strahlende Zukunft zählte sie die Scheine und lächelte. Das war nur der Anfang! Schwungvoll griff sie nach der Brandy-Karaffe, nahm den großen Leuchter und ging ins Atelier, wo sie beides neben den Utensilien abstellte, die sie zum Reinigen und Restaurieren des Gemäldes benötigte.
»Tut mir leid, dass sie dich entdeckt haben«, sagte sie zu dem Mann im Bild. In den vergangenen Wochen hatte sie es sich angewöhnt, mit ihm zu plaudern. Immerhin legte sie in gewisser Weise Hand an ihn, während sie sein Bild bearbeitete. Als sie ihrem Bruder Mick von dem Flohmarktkauf erzählt hatte, fand er ihren Plan nicht schlecht, sich im Restaurieren zu üben. Sie beide wussten, dass man damit gutes Geld verdienen konnte, und das war bitter nötig, wenn sie ihr Haus behalten wollten.
Doch als sie ihm das Bild auf ihrem Smartphone zeigte, meinte er: »Das ist eine Nummer zu groß für dich. Versprich mir, dass du die Finger davon lässt!«
»Warum?«
»An manche Dinge rührt man nicht.« Mit einem Blick zu einer der Kameras, die in drei Ecken des Besucherraums unter der Decke hingen, hatte er hinzugefügt: »Macht doch einfach mal, was man dir sagt!«
Mit einem Schulterzucken, als interessiere sie sich schon nicht mehr dafür, steckte Lia ihr Handy wieder ein. »Ich muss gehen«, sagte sie und beugte sich vor, um ihm einen schnellen Kuss auf die Wange zu geben. »Ach Mick, ich vermisse dich.«
»Ich bleibe nicht ewig im Knast, Schwesterchen.« Nachdem sie sich verabschiedet hatten, rief er sie noch einmal zurück. »Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst!«
»Keine Sorge. Ich habe Besseres zu tun, als mich mit einem alten Schinken abzugeben.«
»Lia, versprich es! Es läuft gerade ein Ding von meinem Anwalt. Er will versuchen, mich früher rauszuholen. Dann kann ich dir auch mit deinem Bild helfen.«
Doch so lange hatte sie nicht warten wollen. Nachdem sie das Gemälde näher untersucht hatte, war die Vermutung, dass hier zwei Künstler am Werk gewesen waren, bald zur Gewissheit geworden. Jemand hatte das ursprüngliche Motiv übermalt, und zwar so stümperhaft, dass es einem aufmerksamen Betrachter schon längst hätte aufgefallen sein müssen. Restaurieren war eine komplizierte Sache, und ihr Praktikum im British Museum reichte bei Weitem nicht aus, um sich an eine Aufgabe wie diese zu wagen. Dennoch wollte sie es versuchen. Ein Test mit UV-Licht bestätigte ihren Verdacht – über dem Porträt lagen weitere Farbschichten, und sie beschloss herauszufinden, wie das Original ausgesehen hatte.
Bald stellte sich eine weitere Besonderheit des Gemäldes heraus: Die Malschichten ließen sich erstaunlich leicht voneinander trennen, fast so, als läge der Firnis wie eine Kunststoff-Folie über dem unteren Motiv. Vielleicht lag es aber auch an dem Lösungsmittel, das sie nach einem Rezept mixte, das Lia zwischen Micks chaotischen Unterlagen gefunden hatte. Es war in einer ungemein ordentlichen Handschrift niedergeschrieben, wie sie heute kaum noch jemand beherrschte. Mick am allerwenigsten. Seine Schrift sähe aus wie die Fußabdrücke eines angetrunkenen Moorhuhns, war ein Lieblingswitz ihres Vaters gewesen.
Die Arbeit am Bild stellte sich dennoch als mühsam heraus. Denn es war ihr bewusst, dass sie sorgfältig vorgehen musste, um dem Gemälde nicht zu schaden. Womöglich war es von großem Wert. Doch das schreckte sie nicht, ihr Ehrgeiz war geweckt, und sie wollte unbedingt herausfinden, welches Geheimnis sich unter all der Farbe verbarg.
Behutsam trug sie die später hinzugekommenen Schichten ab, und mit der Zeit wurde sie immer sicherer in dem, was sie tat, und je mehr vom ursprünglichen Bild sie freilegte, desto überzeugter war sie, etwas Einzigartiges entdeckt zu haben. Obwohl Lia nur langsam vorankam, verlor sie nicht die Geduld, und mit jeder Stunde, die sie mit dem Gemälde verbrachte, erschien es ihr kostbarer. Die Farben der unteren Schicht besaßen eine ungeheure Leuchtkraft, der unbekannte Künstler wies sich durch eine mutige und zugleich sichere Pinselführung aus.
Fasziniert von ihrer Entdeckung fühlte sie sich dem Porträtierten auf eigentümliche Weise immer näher. Während sie sein Gesicht freilegte, zitterte ihre Hand manchmal so stark, dass sie die mit der Tinktur getränkte Watte beiseitelegen musste, um hinauszugehen und frische Luft zu atmen, bis sie sich wieder beruhigt hatte. So hatten sie zahllose Stunden miteinander verbracht, und ihre Freunde spekulierten bereits über eine geheime Affäre.
Das Feuer im Kamin war fast heruntergebrannt. Lia prostete dem Mann im Bild zu. »Es fehlt nicht mehr viel, und ich habe dich endgültig aus deinem düsteren Farbgefängnis befreit. Du bist ein Rebell, stimmt’s?«
Seiner Kleidung nach zu urteilen, müsste das Porträt zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts entstanden sein. Lia war keine Fachfrau in Sachen Regency-Mode, aber sie hatte gegoogelt und den Look auf die Jahre um 1810 datiert. Die hellen Breeches reichten dem Mann bis zu den blank polierten Stiefeln. Dazu trug er eine dezent gemusterte Weste unter der einreihig geknöpften Jacke mit breiten Revers und einem hohen Kragen. Deren während der Restaurierung freigelegtes Blau wirkte so real, dass man das Gefühl bekam, ihn am Ärmel greifen zu können. Seine Krawatte war lässig gebunden, die kastanienbraunen, gewellten Haare wirkten gekonnt zerzaust.
All dies erweckte den Eindruck, er habe nach einem erfrischenden morgendlichen Ausritt nur kurz im Salon vorbeigeschaut, wie für einen Schnappschuss mit der Kamera.
Erstaunlich, denn die Gentlemen der damaligen Zeit hätten sich voller Stolz auf ihre Position in der Oberklasse bestimmt nicht so nachlässig gekleidet porträtieren lassen. Und doch musste er wohlhabend oder sogar von Stand sein. Jemand, der sich wenig um die Konventionen scherte, einen talentierten, möglicherweise noch unbekannten Künstler beauftragt und ihm offensichtlich gestattet hatte, sein wahres Ich und nicht die gesellschaftliche Fassade abzubilden. Genau dies aber ließ ihn dem Betrachter so lebendig erscheinen, dass dieser unweigerlich glauben musste, es fehlte nicht viel, und er würde aus dem Bild steigen.
Trouble Maker, flüsterte es aus allen Ecken des schwach beleuchteten Ateliers. Er wird dich in Schwierigkeiten bringen! Es war ja klar, dass sie die Finger nicht von ihm lassen konnte. Komplizierte Männer wirkten wie Nektar auf Lia. So war es schon immer gewesen. Sie flatterte von einem zum anderen, blieb selten lange genug, um sich auf jemanden näher einzulassen und ernsthaft Schaden zu nehmen. Zumindest behaupteten das ihre Freunde. Sie selbst dagegen war sich nicht sicher, ob ihr überhaupt noch ein Herz übriggeblieben war, so viele Menschen hatten schon große Stücke herausgerissen. Vielleicht funktionierte es deshalb nicht mit Harry. Ihr bester Freund war einfach zu nett und taugte eher dazu, Lia nach einem erlittenen Schiffbruch zu trösten und ihre Blessuren zu reparieren, was er immer wieder zuverlässig tat.
»Auf die Freundschaft!« Lia nahm einen schnellen Schluck. Das Aroma von Vanille und Mandeln auf der Zunge löste eine luftige Leere in ihrem Kopf aus. Lächelnd genoss sie das befreiende Gefühl für einen winzigen Augenblick, bevor ihre Aufmerksamkeit zum Bild zurückkehrte. »Ich würde gern auf dein Wohl trinken, mein Lieber. Aber ich weiß ja nicht mal, wie du heißt.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Nasenspitze. »Lass mal überlegen … William? Mhm, könnte sein. John? Nein. Aber ein George bist du auch nicht.« Sie drehte sich einmal um sich selbst und lachte. »Du trägst keinen gewöhnlichen Namen, habe ich recht?« Plötzlich war sie so sicher, als hätte er sich ihr vorgestellt. »Tristan. Du heißt Tristan.«
Erwartungsvoll sah sie ihn an, doch es veränderte sich nichts an seinem angedeuteten Lächeln, das sie neuerdings schon bis in den Schlaf verfolgte. »Ich muss verrückt sein. Oder betrunken.« Schwungvoll stellte sie das Glas ab. »Ups, übergeschwappt! Egal, gibt jedenfalls keine Rotweinflecken.« Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. »Definitiv betrunken, was meinst du?«
Lia knöpfte sich ihre Bluse auf und ließ sie über die Schultern zu Boden gleiten. Der Rock folgte und sie stieg aus dem dunklen Stoffhäufchen, das sich um ihre Fesseln schlang. Man musste schon sehr aufpassen, um sich nicht mit den hohen Absätzen zu verheddern. Während sie den spitzenzarten BH aus der verheißungsvoll klingenden Kollektion French Kiss auszog, sah sie ihrem Tristan lächelnd in die Augen. »Gefällt dir, was du siehst?« Die flackernden Kerzen in ihrem Rücken verliehen seinem Gesicht etwas Dunkles. Ausdrucksvoll und … gefährlich.
Schwungvoll wandte sie sich ab und warf ihm gekonnt einen koketten Blick über die Schulter zu, bevor sie die letzte Kerze ausblies. »Es wird schon hell. Ich geh ins Bett.«
In der Tür drehte sie sich noch einmal um, zögerte kurz und stöckelte ins Atelier zurück. Bemüht, die Balance zu halten, stellte sie sich vor der Staffelei auf die Zehenspitzen, breitete die Arme aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und küsste ihn auf den Mund. »Ah, du schmeckst viel besser als dieser Brandy. Gute Nacht, Tristan!«
Jetzt das E-Book bestellen (Amazon.de)
Das Taschenbuch ist überall im Buchhandel erhältlich: ISBN 978-3-7579-6550-1
Lia – Kapitel 3
An diesen Kuss dachte Lia, als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Er hatte sich so real angefühlt … Doch ein Blick auf den Wecker genügte, um die letzten Traumfetzen zu vertreiben.
Es war zehn nach elf, und um zwölf musste sie zur Besprechung im Artisan sein. Das Café gehörte zur relativ neuen Dépendance einer New Yorker Kunstgalerie, deren Inhaberin Mick um Unterstützung bei der Präsentation junger Künstler aus Usbekistan gebeten hatte. Aus naheliegenden Gründen konnte ihr Bruder dies nicht tun, deshalb hatte er Lia für den Job empfohlen, der ihr wenig Geld, aber hoffentlich den einen oder anderen Kontakt verschaffen würde. Gleich beim ersten Treffen zu spät zu kommen, war sicher keine gute Idee.
Im Bad erwartete sie der nächste Schreck. Das Licht funktionierte ebenso wenig wie ihr Föhn. Ihr Stromlieferant ScottishPower hatte die Drohung wahr gemacht. Nach einer kurzen, weil eisigen Dusche rief sie die Energiegesellschaft an.
Eine missmutige Call-Center-Mitarbeiterin versprach, die Leitung freischalten zu lassen, sobald die Bank ihre Schnellüberweisung bestätigt hatte. »Sie müssen aber zu Hause sein, damit unser Techniker …«
»Der gute Mann hat den Zähler heute Morgen auch ohne mein Beisein gefunden, um ihn abzuklemmen. Sagen Sie ihm, der Keller ist offen.«
Nachdem sie das Geld bei der Bank gelassen hatte und Viertel nach zwölf erhitzt und außer Atem vor einer kühl blickenden Blondine stand, erfuhr sie, dass das Meeting verschoben worden war.
»Und warum sagt mir das niemand?«
Aus irgendeinem Grund schien diese Frau beschlossen zu haben, Lia als Bittstellerin zu behandeln. Sie spitzte die Lippen und sprach mit einem aufgesetzten Akzent. »Rufen Sie morgen an, dann weiß ich mehr.«
Das würde an ein Wunder grenzen, dachte Lia boshaft, besann sich aber und sagte kühl: »Wissen Sie was, sagen Ihrer Chefin, sie kann mich anrufen. Ich werde sehen, ob ich dann einen Termin frei habe. Guten Tag!«
Ihr Bruder würde sie dafür hassen, aber es war ein zu erhebendes Gefühl, nicht auf das Wohlwollen anderer angewiesen zu sein. Da sollte noch mal jemand sagen, Geld mache nicht glücklich. Noch glücklicher würde sie allerdings eine Shopping-Tour machen, befand Lia, und radelte zum Bahnhof, von dem aus alle Viertelstunde ein Zug nach London fuhr.
Als sie am Abend erschöpft vom Kaufrausch und mit zwei eleganten Tüten am Lenker in ihre Straße einbog, wäre sie beinahe mit jemandem zusammengestoßen.
»Hey!«
Der Mann sah sie nicht mal an, murmelte nur einen Fluch und entferne sich rasch. Was blieb, war ein unangenehmer Geruch von Schweiß und billigem Rasierwasser.
»Idiotischer Stinkbratzen!«, rief Lia ihm nach, aber da war er schon außer Sichtweite. Leute gibt’s … Sie zuckte mit der Schulter, schob ihr Fahrrad bis zu ihrem schmalen Vorgarten und öffnete das eiserne Tor.
Als kleines Mädchen hatte sie dieses viktorianische Haus ihrer Eltern für die irdische Zentrale einer geheimen Welt gehalten — für einen Sehnsuchtsort, wenn Vater und Mutter Expeditionen zu entfernten Kontinenten unternahmen und ihre Kinder in erstklassig organisierten Eliteinternaten mit einer oft hässlichen Realität konfrontiert wurden.
An die kurzen Intervalle, während derer die vier Sinclairs das Leben einer richtigen Familie führten, dachte Lia, wie man sich an einen surrealen Traum erinnert. Voller zuckergetränkter Gedankenfetzen, Begegnungen mit merkwürdigen Schattenwesen, die ihr die ungeheuerlichsten Geheimnisse anvertrauten, und Menschen, die alles für möglich hielten. Die Mutter war klug und charismatisch, ihr Vater Vincent galt als exzentrisch, was dem anerkannten Forscher niemand übel zu nehmen schien, und Mick besaß ein ungewöhnliches malerisches Talent, das die Eltern nach Kräften förderten.
Nur Lia fühlte sich rundum durchschnittlich, und weil es sie betrübte, so normal zu sein, neidete sie Mick manchmal die außerordentliche Begabung. An diesen Tagen der Scham flüsterte die Mutter ihr abends beim Zubettbringen zu: »Du bist einzigartig, Ophelia. Deine besondere Gabe wird sich noch zeigen, warte ab.«
Das Haus […] gehörte zum Familienerbe und stand seit über hundert Jahren grau und trutzig im Professoren-Viertel der Universitätsstadt Cambridge.
Lia schloss das Gartentor hinter sich, durchquerte den schmalen Vorgarten und trug das Fahrrad die drei Stufen zum Eingang hinauf. Der eiserne Löwenkopf in der Mitte der rot gestrichenen Tür schien ihr Tun missbilligend zu beobachten. Sie waren Kinder gewesen, als Mick dem Türklopfer Augen gemalt hatte, doch bis heute jagte ihr der Anblick einen merkwürdigen Schauer über den Rücken. Schnell schloss sie auf und schob ihr Rad in die Eingangshalle. Dass es auf dem aufwändig gefliesten Boden Reifenspuren hinterließ, interessierte Lia nicht.
»Strom oder nicht Strom …« Schwungvoll drückte sie den Schalter und atmete erleichtert auf, als der hässlichste Kronleuchter der Welt, wie Mick behauptete, über ihrem Kopf erstrahlte und – zuckte Sekunden später erschrocken zusammen. Mit einem dramatischen Knall verlosch das Licht, und sie hätte schwören können, dass es von irgendwoher nach verbranntem Gummi roch.
Nicht schon wieder! Die Sicherungen befanden sich im seit Jahren ungenutzten Tiefgeschoss. Lia tastete sich zur ehemaligen Dienstbotentür vor. Wie früher üblich verbarg sich der unscheinbare Durchgang unter der repräsentativen Treppe, die in einem weiten Bogen in die obere Etage führte. Der Erbauer ihres Hauses, ein zu Geld gekommener Professor aus St Andrews, hatte offensichtlich großen Wert darauf gelegt, seinen Besuchern mit angemessener Würde entgegenzutreten, und dafür keine Kosten gescheut. Dabei wirkte die Stadtvilla in tristem Grau von außen eher spartanisch, wie man es von den Kaledoniern nicht anders erwartete. Die Innenräume waren jedoch großzügig geschnitten und heute noch erstaunlich komfortabel, wenn man einmal von der bestenfalls historisch zu nennenden Elektrik absah.
Lia griff nach der Taschenlampe, die für solche Notfälle bereitlag, und lief die schmalen Stufen hinunter, die in die ehemaligen Wirtschaftsräume führten. Ein unappetitlicher Geruch hing in dem engen Gang, und Lia fiel sofort der Mann wieder ein. Sollte das der Typ von der Stromgesellschaft gewesen sein? Er hatte allerdings keine Uniform getragen, wie sie es von ScottishPower kannte. Sie überwand ihren Ekel und leuchtete den Stromkasten an.
Wie vermutet, war die Sicherung durchgebrannt. Routiniert drehte sie den Porzellanknopf heraus, tauschte das defekte Innenteil aus und schraubte alles zusammen, was ihr jedes Mal eine Gänsehaut verursachte. Strom war ihr unheimlich. Als nichts weiter geschah, betätigte sie erwartungsvoll den Lichtschalter. Ein Neonlicht sprang flackernd an.
»Na also!«
[…]
Wieder oben angekommen, lauschte Lia, bevor sie die Eingangshalle betrat, und schloss die Dienstbotentür hinter sich zweimal ab. Obwohl sie sich selbst dabei ein wenig neurotisch vorkam, kontrollierte sie jeden Raum, sogar die Wäschekammer, um sich zu vergewissern, dass sich darin niemand verborgen hielt.
Obwohl ihre Suche nichts ergeben hatte, schloss sie beide Türen ab, bevor sie unter die Dusche ging, und hatte dennoch ein ungewohnt mulmiges Gefühl. Aber duschen musste sie, denn im Keller hatten sich Spinnenweben in ihrer roten Mähne verfangen, und auf der linken Wange befand sich aus unerklärlichen Gründen ein dunkler Rußfleck, außerdem war die morgendliche Körperpflege wegen des abgestellten Stroms ungewohnt kurz ausgefallen.
Das nun wieder warme Wasser spülte schließlich nicht nur ihr duftendes Shampoo, sondern auch die unheimliche Stimmung fort. Zurück im Zimmer, warf sie die Einkaufstüten aufs Bett und hob das zarte Abendkleid vom Boden, um es auf einen Bügel zu hängen. Gestern hatte sie sich sofort nach ihrer Rückkehr umgezogen, denn das kostbare Original gehörte ihr nicht.
Sie zog ihre fleckigen Malklamotten an, lief die ausgetretenen Stufen der unspektakulären Hintertreppe ins Erdgeschoss hinunter und sang dabei laut und wenig melodisch. […]
Lia durchquerte den Wohnraum, um kurz durch die Terrassenfenster in den Garten zu sehen, der dunkel und geheimnisvoll im Mondlicht schimmerte. Schließlich zog sie die Vorhänge zu und stieß schwungvoll die Schiebetüren zu Micks Atelier auf, aus dem man ebenfalls auf den Garten blickte.
Unwillkürlich lächelte Lia, schaltete das Licht ein und trat näher ans Bild heran. Auch hier war alles in Ordnung. Der übel riechende Typ war also wirklich von der Stromgesellschaft geschickt worden und kein Einbrecher. Erleichtert atmete sie auf.
Wie jedes Mal, bevor sie damit begann, Details im Gemälde zu bearbeiten, stellte sie sich zuerst davor, um ein Gefühl für den Gesamteindruck zu bekommen – diesmal stutzte Lia. Die dynamische Pinselführung des Portraits kannte sie! Lia besaß ein Bild, das vom gleichen Künstler stammen könnte. Es stand gut gesichert im Arbeitszimmer, wie sie sich gerade vergewissert hatte, und war ihr größter Schatz. Erstaunlich, dass ihr das vorher nie aufgefallen war.
Sie schüttelte das seltsame Gefühl ab, das sie bei der Entdeckung beschlichen hatte, und sagte: »Guten Abend, Tristan!«
Der Mann im Bild blickte sie wie immer schmunzelnd an. Je mehr sie von der obersten Farbschicht entfernt hatte, desto lebendiger waren seine Züge geworden. Amüsiert dachte sie, wie schockiert er zu seiner Zeit beim Anblick einer jungen Frau in Malerjeans und einem alten, fleckigen T-Shirt gewesen wäre – von ihrem gestrigen Auftritt einmal ganz zu schweigen.
Aus welcher Perspektive man es auch betrachtete, Tristan schien einen immer direkt anzusehen. Mal spöttisch, mal arrogant, aber stets aufmerksam. Lia wusste, dass dies dem Spiel von Licht und Schatten geschuldet sein musste, die Illusion war deshalb nicht weniger beeindruckend. Sie fragte sich, warum man nie von einem so talentierten Künstler gehört hatte. Möglicherweise war er früh gestorben, überlegte sie. Oder eine Frau hatte das Porträt erschaffen. Zu jener Zeit hatte es einige begabte Künstlerinnen gegeben, aber von den wenigsten kannte man jetzt noch die Namen. Sie nahm sich vor, der Sache nachzugehen, sobald sie ihre Arbeiten abgeschlossen hatte. Lia trat näher ans Bild heran.
Tristan wirkte heute regelrecht unverschämt, aber auch eine Spur vorwurfsvoll, als nähme er ihr den Kuss von gestern Abend noch übel.
Irritiert wich sie seinem Blick aus, und da sah sie es: Der Brandy war fort. Das heißt, Flasche und Glas standen noch auf dem Beistelltisch, aber sie waren leer.
Für die Dauer eines Wimpernschlags erstarrte sie. »Hast du die etwa leergetrunken?«, fragte sie nach dem ersten Schreck und hätte dabei nicht sagen können, ob sie Selbstgespräche führte oder den Mann im Bild meinte.
War es ein Lichtreflex, oder vertieften sich die Lachfältchen um seine seegrünen Augen? Lia schüttelte den Kopf. »Unsinn. Wenn du aus dem Bild aussteigen könntest, hättest du es bestimmt längst getan.« Natürlich erhielt sie keine Antwort.
»Dann werden wir mal sehen, was noch zu tun ist … Ah, ja! Der linke Stiefel.«
Sie knipste die beleuchtete Lupe an, um die betreffende Stelle zu inspizieren. Bereits vor einigen Tagen hatte sie sich damit befasst, war aber nicht weit gekommen. Heute wollte sie es mit einer leicht abgewandelten Rezeptur aus den historischen Aufzeichnungen, die sie im Zimmer ihres Bruders gefunden hatte, noch einmal versuchen.
Das Mittel war schnell angerührt. Mit dem getränkten Läppchen betupfte sie den Streifen, der sich wie eine Fußfessel über das glänzende Leder von Tristans linkem Stiefel zu ziehen schien. Vergeblich. Wieso ließ sich bloß diese verflixte Farbe nicht entfernen? Es war offensichtlich, dass sie nicht zum Original gehörte. Ihr kam es vor, als hätte hier jemand Lack oder etwas Ähnliches aufgetragen. Mit diesem Lösungsmittel, so gut es bisher gewirkt hatte, kam sie nicht weiter. Enttäuscht strich Lia über die Stelle. Ach, geh doch weg, du blöder Farbklecks! Sie spitzte die Lippen und pustete, als könnte man auf diese Weise unwillkommene Hindernisse wie überschüssigen Puder fortblasen. Früher in ihren Kinderträumen hatten solche Zauber funktioniert, dachte sie amüsiert. Manchmal erschien es ihr gar nicht mehr so erstrebenswert, erwachsen zu sein.
Ein Rumpeln in ihrem Bauch erinnerte daran, dass sie den ganzen Tag nichts Vernünftiges gegessen hatte, und weil sie für den Augenblick ohnehin nicht weiterkam, beschloss Lia, eine Pause einzulegen und sich etwas zu kochen. Auch so etwas, das sie als Kind nicht hatte tun müssen.
Um frische Luft hereinzulassen, öffnete sie die breiten Flügeltüren zur Terrasse. Gelächter wehte aus einem der angrenzenden Gärten herüber, gefolgt vom rauchigen Duft glühender Holzkohle. Der Nachbar war Mitglied im National BBQ Team und ließ kaum einen Abend ungenutzt, um sich auf die bevorstehende Meisterschaft vorzubereiten. Für einen Augenblick war Lia versucht, hinüberzugehen. Es wäre nicht das erste Mal, denn Abby, die warmherzige Frau des Grillenthusiasten, hatte oft auf die Sinclair-Kinder aufgepasst, bevor sie von ihren Eltern ins Internat geschickt worden waren.
Der Wunsch nach einem ungestörten Abend war aber stärker, und Lia kehrte zurück in die Küche. Dort nahm sie Zucchini, Karotten und anderes Gemüse aus dem Kühlschrank, um es für ein indisches Curry-Gericht mit roten Linsen fein zu würfeln. Danach zündete sie die Gasflamme an und drehte das Radio weiter auf, als einer ihrer Lieblingssongs gespielt wurde. Übermütig hopste sie auf den Küchenfliesen Himmel & Hölle und sang den Refrain laut mit, während sich die Pfanne langsam erwärmte.
Es war nicht mehr als ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern, das sie warnte. Unauffällig tänzelte Lia zum Herd und sang vor Aufregung noch schräger als üblich. Mit beiden Händen ergriff sie den Pfannenstiel, wirbelte blitzschnell herum und nutzte die Bewegung, um zum Schlag auszuholen.
»Wer zum Teufel …?« Die restlichen Worte blieben ihr im Hals stecken.
Jetzt das E-Book bestellen (Amazon.de)
Das Taschenbuch ist überall im Buchhandel erhältlich: ISBN 978-3-7579-6550-1